Ein Briefwechsel zwischen Johanna Wieland und Cordt Schnibben.
Liebe
Vor- und Mit-Juroren
...
gestern gegen Mitternacht standen sie plötzlich alle um mich herum:
Die Säure-blinde
Iranerin saß neben dem Stasi-Rentner auf der Bank und streichelte
dessen Schusswunde, eine Tagesmutter schüttelte ein Baby ins
Hirntrauma, die andere verabreichte Kleinkindern Drogen. Da standen
verzweifelte Mütter und Väter, verwirrte Mörder irrten durch mein
Wohnzimmer, ein Leichenfledderer beschwerte sich, dass von der
Palästinenserin und der Israelin nicht genügend plastifizierbares
Fleisch geblieben war, dann hoben sich das Parkett, skelettierte
Hände griffen nach mir, und aus dem Computer grinste das Publikum
...
Nein, ich habe nicht
den neuesten, noch unveröffentlichten Tarantino gesehen, sondern mir
(noch nicht alle, aber die meisten) Vorschläge zum Reporterpreis –
tja: angetan.
Weil
Listen beruhigen sollen, habe ich welche angelegt, Ihr findet sie
hier:
Wir haben 27 Texte
ausgewählt. Darunter sind:
3 x Selbstmörder
2 x misshandelnde
Tagesmütter
1 x Amokläufer
3 x Mörder
2 x Gewaltverbrecher
1 x
Leichenfledderer.
Macht
12 Texte, die sich dem Thema Gewalt, Tod, Verzweiflung widmen.
Div.
Elend (Krieg, Koma, Krankheit, Behinderung, Alter): 5 Texte
Neun
Texte behandeln:
1 x abgewrackten
Sportler
1 x abgewrackten
Politiker
1 x frustrierten
Waldschützer
1 x Hartz 4
1 x Arbeitslosigkeit
1 x die böse
Gentechnik/Hunger
1 x Shoa
2 x hilflos in der
Finanzkrise.
Bleiben “Paul und
Paula”. Da stehen sie, in zauberischen Unschuld, und schauen auf
das Splatter-Movie, das wir als Zustandsbeschreibung unserer Zeit
herausgefiltert haben.
Es ist der (nach
meiner bisherigen Lektüre) der einzige Text, der von der Liebe
handelt. Der einzige Text, der sich dem “Harmlosen” widmet, der
darauf vertraut, dass auch im “Normalen” eine Geschichte zu
finden ist, der keine beschädigten Helden vorstellt. Der leise Töne
hat, und nicht auf (mehr oder weniger) harten Tobak setzt.
Haben wir etwas
falsch gemacht, bei der Vorauswahl? (Ich habe drei der
Elends-Geschichten nominiert.)
Haben wir “starke”
Geschichten zu oft mit “Elendsgeschichten” gleichgesetzt? (Die
Reportagen, jede für sich genommen, sind durchaus, in Abstufungen,
gut – es ist die Auswahl!)
Ich habe das ungute
Gefühl, dass dieser Reader die Welt verfehlt, in ihrer Komplexität
aus Gut und Böse, Leid und Liebe, Tod und Leben, Hoffnung und
Verzweiflung. Wenn es eine Aufgabe der Reportage ist, dem Leben den
Puls zu fühlen – dann rast der, weil wir uns mindestens auf der
Schwelle zur Hölle befinden.
Oder, andere
Möglichkeit, wir Reporter haben nicht genug Fingerspitzengefühl, um
den Herzschlag zu fühlen. (Sorry für das Pathos!)
Übrigens habe ich
bei der Lektüre sämtlicher Geschichten ein einziges Mal gelacht
(besser: hysterisch gekichert).
Gestaunt habe ich
kaum. Dafür habe ich mich ausdauernd gegruselt. Reicht das?
Böse, in manchen
Fällen ungerecht gesprochen, könnte man aus den 17 zuerst erwähnten
Geschichten auf meinen hilflosen Listen folgendes Rezept für
Jungautoren kondensieren: Such Dir ein Opfer (wahlweise Täter), wanz
Dich an, press sie aus bis auf das letzte Detail, und verlass Dich
auf die Wucht des Schicksals, das Du beschreibst.
Wie viel
Welterklärung, wie viel Erkenntnis aber steckt in solchen
Geschichten?
Wahrscheinlich haben
die alten Jury-Hasen unter Euch (zu denen ich nicht gehöre) nun
schon mindestens drei Mal gegähnt: Ach Gott, schon wieder diese
Debatte! Vielleicht habe ich aber auch nur das Memmen-Gemüt einer
Schrebergärtnerin. Und vielleicht beruhigen mich ja die paar Texte,
die ich noch lesen muss. Ich hoffe, ich bin keinem zu nahe getreten!
Mit Grüßen,
Johanna Wieland
Liebe Johanna,
sehr schöne Mail,
Du hast (fast) in allem recht. Aber es ist so, wie Du vermutest: In
zwanzig Jahren Kisch- und Nannen-Jury habe ich gelernt, dass
Journalistenpreise mit diesem Elendsproblem leben müssen. Warum?
Weil immer nur die einzelne Geschichte zählt und nicht die
Gesamtschau, kein Leser liest die 27 nominierten Reportagen und
schüttelt den Kopf darüber, wie Reporter die Welt sehen. Er findet
die Reportagen auf der Seite 3 der SZ, in Geo, im Stern, in der FAZ
zwischen all den Geschichten, die Du vermisst. Wir picken sie da
raus, weil sie uns besonders packen.
Die Reportagen, die
Du vermisst, sind unter den 300 eingesandten, aber die Vorjuroren
haben sie nicht nominiert. Warum? Muss jeder für sich beantworten,
ich war nicht beteiligt an der Auswahl der Reportagen. Ein paar
Beispiele, und die sollen Dich nicht zum Schweigen bringen, sondern
nur zeigen, dass jeder seiner Auswahl Schmied ist: In Deiner/Eurer
Textgruppe zum Beispiel war die SZ-Geschichte von Gertz über den
SPD-Bundestagskandidaten Axel Berg, der sein Mandat knapp verfehlt
hat und nun irgendwie von vorn anfangen muss – schöner normaler
politischer Alltag, gut geschrieben, anrührend.
Ebenfalls in eurer
Jurygruppe: Deike Dienings Text aus dem Tagesspiegel über die
Ururenkel von Darwin, originelle Idee, gut geschrieben, kein Mörder
weit und breit. Du vermisst Erkenntnis und Welterklärung unter den
nominierten Reportagen? Unter euren Texten war Ullrich Fichtners
Reportage über Mr. Brinkley, jenen Amerikaner, der im Irak den
zivilen Aufbau generalstabsmäßig organisiert – hat meine Sicht
auf den Irak verändert.
Mit Deiner Frage
„Wie viel Welterklärung, wie viel Erkenntnis steckt in
Geschichten?“ sprichst Du – über die Auswahl der nominierten
Reportagen hinaus – ein Problem an, das die Reportage heute hat:
Wie sehr muss (kann) sie die Dinge nicht nur erzählen sondern auch
erklären? Welche erzählerischen Kompromisse muss sie machen, um
hintergründiger sein zu können? Wie viel Meinung verträgt sie, wie
behauptet sie sich zwischen Report und Essay, welche Mischformen sind
nützlich?
Zurück zu Deinem
Hauptproblem: Du vermisst in dem Reader das Gute, die Liebe, die
Hoffnung. Kann sein. Dann haben die Reporter eben in diesem Jahr zu
wenig gute Geschichten gefunden, um von der Liebe, der Hoffnung und
dem Guten zu erzählen. Vorjuroren können nur Geschichten
nominieren, nicht Themen. Ich glaube, da hilft keine
Gute-Laune-Quote, kein Normalleben-Bonus, Vorjuroren müssen wie
Leser urteilen, nicht wie Reportage-Funktionäre, sie dürfen keine
Gesamtschau im Kopf haben.
Warum machen wir
diesen Journalistenpreis? Um Reporter zu ermuntern, ihre Geschichte
auf ganz eigene Art zu erzählen; wir können handwerklich animieren,
aber nicht thematisch; wir können möglichst vielfältige Stile,
Handschriften, Dramaturgien zur Schau stellen, wir können möglichst
viele Reporter nominieren, sie bestätigen und sie ermuntern, ihre
Geschichte zu finden. Welche? Die, die sie interessant finden, die
exemplarisch von Themen und Problemen erzählen, die sie erregt.
Nahostkonflikt? Die Geschichte der Mütter. Situation der Frauen im
Islam? Säureattentat. Krieg in Afghanistan? Die letzte Schlacht.
Finanzkrise? Politikerkarrieren? Arbeitslosigkeit? Gentechnik?
Waldschutz?
Was ist schlimm an
dieser Liste? Okay, ein paar zuviel Mörder haben wir. Aber ihre
Geschichten sind offenbar aufwühlender als andere, möglicherweise
erzählen sie auch mehr vom Leben als die einfühlsame Reportage vom
Alltag eines Milchbauern.
Das Problem, das ich
mit unserer Liste habe: Wir ermuntern zu wenig verschiedene
Redaktionen, wo sind die guten Reportagen aus FAZ, SZ, Tagesspiegel
und Geo? Aber auch da gilt: Es zählt nur die einzelne Reportage,
Heike Faller kann man nicht vorwerfen, dass sie in der „Zeit“
schreibt und Ullrich Fichtner nicht, dass er beim „Spiegel“ ist.
Dennoch hoffe ich fürs nächste Jahr, dass die Vorjuroren noch
genauer bei den Tageszeitungen nach guten Reportern und Reportagen
Ausschau halten.
Wir sollten am
Dienstag darüber reden, und wir sollten diese Diskussion auch auf
der Website öffentlich machen. Vielleicht regt das den einen oder
anderen Reporter an, über das Thema seiner nächsten Reportage noch
mal nachzudenken. So oder so.
Schöne Grüße! Cordt
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